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Gerd Hoffmann:
Der Prozeß um den Brand der Synagoge in Neustettin
Hoffmann, Gerd:
Der Prozeß um den Brand der Synagoge
in Neustettin. Antisemitismus in Deutschland ausgangs des 19.
Jahrhunderts. Mit einer Einführungsbibliographie und biobibliographischen
Anmerkungen zu Ernst Henrici, Hermann
Makower, Erich
Sello. – Schifferstadt: Gerd Hoffmann Verlag, 1998. 329
Seiten. 14,90 €.
ISBN 3-929349-30-2
„Feuer, Feuer, die Synagoge brennt!“ Diese Nachricht verbreitet sich am 18. Februar 1881 wie ein Lauffeuer in dem hinterpommerschen Kleinstädtchen Neustettin. Das Unglück geschieht zu einer Zeit, als in Deutschland die antisemitische Agitation eine Hochblüte erlebt. Judenfeindliche Parteien verbreiten ungehindert ihre Hetzparolen. die besonders in den deutschen Ostprovinzen auf fruchtbaren Boden fallen. Erst wenige Tage vor dem Unglück hat in Neustettin der antisemitische Berliner Krawallpolitiker Ernst Henrici eine seiner üblen Brandreden gegen die Juden gehalten, das Klima des Hasses erreicht den Siedepunkt.
In diese Stimmung fällt der Brand der Synagoge wie der Funke in ein Pulverfaß, die Emotionen kochen über. Erbitterte Juden bezichtigen die christlichen Fanatiker der Brandstiftung, Christen im Gegenzug ihre jüdischen Mitbürger, das eigene Gotteshaus angezündet zu haben. Nachdem die bebördlichen Ermittlungen zunächst keine greifbaren Hinweise auf einen Täter ergeben haben, setzt die antisemitische Bevölkerung Neustettins durch Verbreitung vager Verdächtigungen und Gerüchte alles daran, den Juden selbst die Brandstiftung ihrer Synagoge nachzuweisen. Im Oktober 1883 schließlich erhebt die Staatsanwaltschaft Anklage gegen fünf Mitglieder der Neustelliner jüdischen Gemeinde. Es folgt ein aufsehenerregender Sensationsprozeß.
Dieser Fall, der seinerzeit durch die Presse des In- und Auslandes ging und für erhebliche Emotionen sorgte, ist weit mehr als nur eine spannende Kriminalgeschichte, bei welcher der Leser um den Ausgang des Verfahrens rätselt, sondern das Geschehen vermittelt auch höchst interessante Einblicke in die politischen und sozialen Zustände Deutschlands ausgangs des vorigen Jahrhunderts. Mit beklemmender Anschaulichkeit wird uns ferner vor Augen geführt, daß der im Nazideutschland in radikalster Konsequenz praktizierte Antisemitismus nicht über Nacht entstanden ist, sondern dessen Ursache unter anderem auch in der bereits lange zuvor von Teilen der Bevölkerung offen praktizierten oder tolerierten Judenfeindschaft begründet liegt.
„Der Prozeß um den Brand der Synagoge in Neustettin“ besteht aus
mehreren Teilen: In der „Vorgeschichte“ werden zunächst die Anfänge
der Antisemitismusbewegung im Deutschen Kaiserreich Ende des 19. Jahrhunderts
skizziert und anschließend das Neustettiner Lokalgeschehen vor und
nach dem Synagogenbrand anhand zeitgenössischer Quellen nachgezeichnet.
Es folgt die auf zeitgenössischen Prozeßberichten beruhende
Wiedergabe des eigentlichen Strafverfahrens, das bis zum Reichsgericht
ging. Im Anhang schließlich wird unter dem Titel „Biobibliographische
Anmerkungen“ Lebensweg und literarisches Werk von drei Schlüsselfiguren
des Geschehens dargestellt, nämlich der beiden bekannten Berliner
Rechtsanwälte Erich Sello und Hermann
Makower sowie des geistigen Mitverursachers der hinterpommerschen Vorfälle
Ernst Henrici.
Die abschließende „Bibliographie von Einführungsliteratur
zum Antisemitismus in Deutschland ausgangs des 19. Jahrhunderts“ bietet
den Einstieg für ein tieferes Studium dieses uns heutigen Zeitgenossen
vielfach unbekannten Phänomens vor hundert Jahren.
Das 329seitige Buch ist mit Abbildungen versehen und erscheint im „Gerd Hoffmann Verlag Schifferstadt“. Das Titelbild wurde von dem Schifferstadter Künstler Giuseppe Sinigoi gestaltet. Die im Buchhandel erhältliche Veröffentlichung kostet 14,90 €.
Vorgeschichte |
7-49
|
Die Anfänge der Antisemitismusbewegung im Deutschen Kaiserreich |
7-22
|
Der Brand der Synagoge in Neustettin und die Folgen |
23-49
|
Der Prozeß |
50-197
|
Verhandlung vor dem Schwurgericht in Köslin |
50-105
|
Revisionsverhandlung vor dem Reichsgericht |
106-114
|
Verhandlung vor dem Schwurgericht in Konitz |
115-197
|
Nachspiel |
198-208
|
Schlußbetrachtung. Von Erich Sello |
209-246
|
Biobibliographische Anmerkungen |
247-305
|
247-281
|
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Hermann Makower |
282-292
|
293-305
|
|
Auswahlbibliographie |
306-314
|
Quellen und Literatur |
315-329
|
Eine Neustettiner Lokalzeitung, die „Norddeutsche Presse“, ließ keine Gelegenheit aus, judenfeindliche Propaganda zu betreiben. Die Berliner Wochenzeitung „Die jüdische Presse“ charakterisierte das antisemitsche Kampfblatt: „In einer Beziehung ist Neustettin Berlin noch weit über, nämlich in Bezug auf Judenhetze. Seit einem Jahr ungefähr läßt’s sich ein hier erscheinendes Tageblatt, die ‚Norddeutsche Presse‘, angelegen sein, die Gemüter gegen die Juden zu erregen, und es vergeht kein Tag, an welchem nicht gehetzt wird. Daß dieses Hetzblatt hier, wo Wagener geblüht, einen fruchtbaren Boden findet, wird wohl niemand wundernehmen. Mehr aber wundern wird es Sie zu vernehmen, daß das Blatt von dem ‚Konservativen Verein‘, der sich hier vor längerer Zeit zur Wahrnehmung konservativer Interessen gebildet hat, herausgegeben wird und der eigentliche Redakteur ein kaiserlicher Telegrafenbeamter namens Fischer ist. Zwar figuriert ein anderer Name als verantwortlicher Redakteur, allein, es weiß hier jedes Kind, daß der als verantwortlicher Redakteur zeichnende Michow nur eine vorgeschobene Person ist, und im Redaktionslokal stellt sich Herr Fischer als Redakteur vor, ein Umstand, der auch dem Vorgesetzten des Telegrafenbeamten wohl bekannt ist und dennoch stillschweigend geduldet wird. Ist es da nicht begreiflich, wenn sich im Volke die Meinung verbreitet, daß die Regierung gegen diese Hetzereien nichts einzuwenden habe?“
Anfangs 1881 wurde aus Neustettin gemeldet: „Der bekannte Dr. Henrici
hat sich jetzt
Hinterpommern als neues Probierfeld für seine antisemitischen
Salbadereien ausersehen. Mitte dieses Monats wird derselbe hier und in
anderen Orten Hinterpommerns Agitationsvorträge gegen die Juden halten.
Zeit hat er ja dazu, da ihm bekanntlich eine Anstellung als Lehrer vom
Berliner Magistrat versagt worden ist.“
Am 13. Februar 1881 hielt Henrici in Neustettin auf Einladung des antisemitischen
Eisengießereibesitzers Paul Ehmke im Krohnschen Lokal eine seiner
bekannten demagogischen Brandreden gegen die Juden. Die Neustettiner „Norddeutsche
Presse“ veröffentlichte eine Zusammenfassung des Vortrages:
...
An Bismarck wurde von der Versammlung folgendes Telegramm gesandt:
Die heute zahlreich besuchte Versammlung deutscher Männer aus Stadt
und Kreis Neustettin begrüßt die Erklärung, daß Ew.
Durchlaucht nicht daran denken zurückzutreten, vielmehr dem Vaterlande
dienen zu wollen, solange ein Faden an Ew. Durchlaucht ist, mit innerer
Freude und großem Dank und erblickt in der jetzigen Zoll- und Wirtschaftspoli-tik
den Weg zum Schutze und zur Entfaltung nationaler Arbeit und zur Kräftigung
und zur Erhaltung deutscher Art und Sitte. Darauf ging ein von Bismarck
eigenhändig unterzeichnetes Dankschreiben an Ehmke ein.“
Am nächsten Tag, dem 14. Februar 1881, sprach Henrici unter großem Beifall im Nachbarort Ratzebuhr. Auch hier wurde ein Telegramm an Bismarck geschickt und durch ein Dankschreiben beantwortet. Kurz danach, am 18 Februar 1881, ging die Synagoge der Neustettiner jüdischen Gemeinde in Flammen auf. Dies brachte die anti-semitische Stimmung in Hinterpommern zum Überkochen.
Ein Korrespondent der „Jüdischen Presse“ schilderte das Geschehen in Neustettin: „Aus den Tagesblättern werden Sie bereits von dem Unglück unterrichtet sein, welches unsere Gemeinde betroffen, unsere Synagoge wurde am 18. des Monats ein Raub der Flammen. Das Feuer brach vormittags aus, und dennoch konnte nichts gerettet werden, da fast gar keine Löschmittel zur Stelle waren. Neun Thorarollen und alle sonstigen Utensilien der Synagoge verbrannten. Daß das Feuer von ruchloser Hand angelegt wurde, hat schon das erste vorläufige Zeugenverhör ergeben, und vielfach wird hier die Vermutung ausgesprochen, daß die Semitenhetzer für diese Tat moralisch verantwort-lich seien; dieser Meinung gab auch ein hiesiger angesehener Arzt christlicher Konfes-sion in Gegenwart des Landrates gegenüber einem der Haupthetzer noch auf der Brandstätte Ausdruck. Und die Vorereignisse bezeugen die Berechtigung zu dieser Vermutung: Am 13. nämlich hielt hier Dr. Henrici eine seiner gewöhnlichen Hetzreden; nehmen Sie die Quintessenz aller Abscheulichkeiten in den Antisemitenversammlungen der Reichshallen usw. und Sie haben ein Bild dieser Versammlung. Nichts fehlte, dieselben Verdächtigungen und dieselben Aufreizungen. Ein evangelischer Pastor, Prediger Radatz aus Hütten, sekundierte ihm. Dann zum Schluß sang man: ‚Deutschland, Deutschland über alles‘ – tout comme chez vous!
Am anderen Tage dieselbe Versammlung, dieselben Reden in Ratzebuhr, einer benachbarten kleinen Stadt unseres Kreises. Hier zogen die Helden unter den Klängen ,Schmeißt ihn raus den Juden Itzig‘ durch die Stadt. Die ganze Woche herrschte hier infolge der maßlosen Agitationen die größte Erbitterung gegen die jüdischen Einwohner der Stadt; man konnte sich nicht auf der Straße zeigen, ohne vom Pöbel beschimpft zu werden. In den öffentlichen Lokalen wurden Juden ohne jede Veranlassung insultiert. Eine stille Beängstigung hatte die ganze Woche die Gemüter ergriffen. Ein hiesiger jüdischer Arzt sagte mir noch am Donnerstag abend: ‚Ich weiß nicht, mir ist so unheimlich zumute, als stände uns etwas Schreckliches bevor.‘
Und als Freitag das Traurige geschah, als die Synagoge in Flammen stand, da sah man bei dem rohen, gebildeten und ungebildeten Pöbel nur lachende Gesichter und sofort hieß es bei ihnen, die Juden haben den Tempel, wie die Synagoge im Volksmund genannt wurde, selbst angezündet. Die hiesige Hetzpresse ist ganz entrüstet darüber, daß man wagt, ihnen mit ihrer Genossen Hetzerei die moralische Verantwortung für die ruchlose Tat aufzubürden, und wenn dies auch vor Abschluß der Untersuchung in der Tat nicht mit Sicherheit geschehen kann, so steht doch soviel fest, daß solche Verbrechen in ihren Blättern als Rat Luthers proklamiert worden sind. Unter anderen angeblichen Aussprüchen Luthers zitiert die Norddeutsche Presse am 30. November 1880 wörtlich folgendes: ...
Das Buch liefert einen wichtigen Beitrag zur Illustration des agressiven
Antisemitismus in den achziger Jahren des 19. Jahrhunderts in Hinterpommern
... Das Buch erweitert ohne Zweifel die Kenntnisse über die facettenreiche
pommersche Geschichte. Erlaubt es doch tiefe Einblicke in die Mentalität
der Bevölkerung der hinterpommerschen Kleinstadt Neustettin in ihrem
Verhältnis zu ihren jüdischen Mitbürgern am Ende des 19.
Jahrhunderts.
Martin Onnasch in: Baltische Studien N.F. Bd. 85 (=
131). 1999, 146-147.
Gerd Hoffmann schildert detailreich die Anfänge der völkischen
antisemitischen Bewegung Bewegung im Kaiserreich, im besonderen die fragwürdige
Karriere von Ernst Henrici, und beschreibt, wie durch Propaganda und judenfeindliche
Stimmungsmache eine Atmosphäre geschaffen wurde, die einen Prozeß
dieser Art erst möglich machte ... Der Autor hat ein auf unheimliche
Weise aktuelles Buch vorgelegt. Zeigt es doch beklemmend, wie tief der
Antisemitismus weit vor seiner politischen "Legitimierung" in Teilen der
deutschen Bevölkerung verankert war.
Margret Heitmann in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung
Jg. 49. 2000, 609-610.
Gerd Hoffmann zeigt in seinem Buch "Der Prozeß um den Brand der
Synagoge in Neustettin" eine andere Herangehensweise; er läßt
in vielen Details das Alltagsleben und die Stimmungen der hinterpommerschen
Provinz vor den Augen des Lesers entstehen. Eine spannende Kriminalgeschichte
wird berichtet - und noch viel mehr ...
Neustettin erscheint einerseits als Paradigma einer kleinen typischen
Stadt in der preußischen Provinz, deren Geschichte für die Geschichte
des "gewöhnlichen" Antisemitismus in ganz Deutschland stehen kann,
andererseits gelingt es Gerd Hoffmann, das Interesse an den einzelnen Menschen,
deren Leben sich durch den Brand der Synagoge zum Teil dramatisch veränderte,
über lange Strecken des Buches wachzuhalten. Da ist der Landrat, der
auf eigene Faust Belastungszeugen gegen die jüdischen Angeklagten
sucht, aber eigentlich als liberal gelten will; da ist ein Lehrer, der
seine Schüler zu offensichtlichen Lügen zwingt; da sind "glaubwürdige"
Zeugen, deren kollektiver Jagdeifer selbst den Staatsanwalt überfordert;
da sind pommersche Trunkenbolde, deren Krawallantisemitismus fast lächerlich
anmutet; da sind alte Frauen, die mit ihren Ahnungen und Träumen im
Gericht für Gelächter sorgen; da sind aber auch die Opfer: der
Vater, der am Brandtag ein Kind verliert; der alte Mann, dessen Gesundheit
durch die zum Teil 14stündigen Verhandlungstage völlig aufgerieben
wird; der Rabbiner, der immer wieder versucht, der einfachsten Menschlichkeit
Gehör zu verschaffen; die "unbeteiligten" jüdischen Familien,
denen nur ein Leben in ständiger Angst bleibt, angefeindet von den
Nachbarn, mit denen sie bis dahin relativ friedlich zusammengelebt hatten.
„In dem preußischen Regierungsbezirk Köslin in Hinterpommem
unweit der westpreußischen Grenze liegt die Stadt Neustettin [..]“,
aber beklemmenderweise nicht nur dort; die anschauliche Schilderung dieses
Buches läßt dem Leser keine Wahl: es ist auch seine Geschichte.
Das unheilvolle Kramen nach Indizien, das Tuscheln und Kopfschütteln,
das Spionieren und die nebulösen Anspielungen und Gerüchte sind
auch sehr gegenwärtige Verhaltensweisen, wenn es um diejenigen geht,
die als verachtete Minderheit von der Mehrheit nur geduldet werden. Der
von Gerd Hoffmann so präzise geschilderte „Antisemitismus der Provinz“
bildete mit Sicherheit die Ursache für die gleichgültige Hinnahme,
die willige Mittäterschaft eines großen Teils der deutschen
Bevölkerung an dem von Adolf Hitler praktizierten Vernichtungsantisemitismus
40 Jahre später. Die Frage, wie gewöhnlich der gewöhnliche
Antisemitismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts wirklich war, wird immer
wieder neu zu stellen und zu beantworten sein. Eine Antwort aber ist das
Buch von Gerd Hoffmann ...
Den See gibt es noch und viele Steinewerfer ebenso, deshalb sind Bücher
wie das von Gerd Hoffmann wichtige Beiträge der Erinnerung.
Heide Eggert in: Zeitgeschichte Regional. Mitteilungen
aus Mecklenburg-Vorpommern. Jg. 3. 1999 (H. 1), 113-114.